Das fliegende Pferd und der Waldzauber - eine Geschichte mit Pferden
- Michael Mücke

- 18. Sept.
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleines Pferd, das in einer grünen Wiese am Rande eines großen Waldes lebte. Während die anderen Pferde Tag für Tag grasten, spielten und über die Wiese galoppierten, spürte dieses Pferd etwas ganz Besonderes in seinem Herzen. Es war neugierig auf Dinge, die niemand sonst zu bemerken schien.
Es hörte den Wind im Gras singen, verstand das Murmeln des Baches und bemerkte, wie die Bäume miteinander flüsterten. Doch das größte Geheimnis bewahrte es tief in sich: Es konnte fliegen, wenn die Nacht hereinbrach und der Himmel voller Sterne war.
Immer wenn die Herde schlief und nur die Grillen zirpten, hob das Pferd seine Hufe vorsichtig vom Boden und ließ sich von der Nachtluft tragen.
Zuerst schwebte es nur knapp über den Wiesenblumen, dann immer höher, bis es fast die Baumwipfel des Waldes berührte. Doch es flog nie weit hinein, weil die Schatten des Waldes geheimnisvoll und ein bisschen unheimlich wirkten.
Eines Abends, als die Dämmerung den Himmel rosa färbte, hörte das Pferd eine leise, freundliche Stimme. Sie kam nicht von oben, sondern aus dem Wald. „Kleines Pferd, fürchte dich nicht, ich bin der Waldzauber, und ich habe dich schon lange beobachtet.“
Das Pferd spitzte die Ohren, schaute in die Dunkelheit zwischen den Bäumen und sah, wie ein sanftes grünes Leuchten zwischen den Stämmen aufblitzte. Es war, als hätten die Bäume selbst Augen bekommen, die voller Wärme funkelten.
Das Pferd trat neugierig näher. „Wer spricht da? Und was ist der Waldzauber?“ fragte es zaghaft. Da begann der Wald zu rauschen, als würde er lachen. „Der Waldzauber ist die Kraft, die in allen Blättern, Tieren und Wurzeln lebt. Heute Nacht möchte ich dir zeigen, was im Verborgenen liegt.“
Langsam, fast schüchtern, betrat das Pferd den Waldrand. Plötzlich glimmte ein schimmernder Weg aus Moos und Sternenstaub vor ihm auf. Kleine Glühwürmchen setzten sich an den Wegrand und leuchteten wie winzige Laternen.
Das Pferd setzte vorsichtig einen Huf auf den weichen Pfad, und sofort fühlte es sich, als trüge der Boden es leichter, als könnte es sogar noch höher fliegen.
Bald hörte es fröhliches Kichern. Zwischen den Sträuchern hüpften kleine Wesen hervor – winzige Waldelfen, die Blätter als Hüte trugen und mit Spinnenfäden schaukelten. Einer rief: „Schau mal, ein Pferd, das fliegen kann, wie aufregend!“
Ein anderer purzelte über einen Ast und rief lachend: „Komm, wir zeigen dir die Geheimnisse des Waldes!“
Sie führten das Pferd tiefer hinein, und je weiter es ging, desto lebendiger wurde der Wald. Aus den Bäumen tropften funkelnde Tropfen, die nach Honig dufteten, und der Bach, der durch den Wald floss, sang eine Melodie, die wie ein Schlaflied klang.
Auf einer Lichtung sah das Pferd einen alten, knorrigen Baum, dessen Stamm wie ein Gesicht wirkte. Der Baum öffnete seine Augen und sprach mit tiefer Stimme: „Willkommen, kleines Pferd. Der Wald hat auf dich gewartet.“
Das Pferd staunte. „Warum gerade auf mich?“ fragte es neugierig. Der Baum lächelte mit seiner Rindengesichtsmiene. „Weil du nicht nur mit den Hufen gehst, sondern auch mit dem Herzen siehst. Nur so kann man den Waldzauber erkennen.“
Dann begann ein festliches Treiben. Die Waldtiere traten aus ihren Verstecken hervor. Eichhörnchen wirbelten Nüsse durch die Luft, Hasen hüpften wie Tänzer im Kreis, und Eulen flatterten lautlos über die Lichtung, um im Flug Muster aus Federn zu zeichnen.
Die Elfen sprangen auf den Rücken des Pferdes und riefen fröhlich: „Galoppiere, galoppiere, wir wollen den Himmel berühren!“
Also breitete das Pferd seine unsichtbaren Flügel der Nacht aus und hob sich mit den Elfen in die Lüfte. Sie flogen zwischen den Baumwipfeln hindurch, drehten sich im Mondlicht und lachten aus vollem Herzen.
Unten leuchtete der Wald in tausend Grüntönen, oben funkelten die Sterne, und alles schien voller Freude und Leben. Doch plötzlich flackerte das grüne Licht des Waldes unruhig.
Ein Wispern zog durch die Bäume, und der alte Baum sprach ernst: „Es gibt ein Problem, kleines Pferd. Ein geheimnisvoller Kristall, der die Quelle des Waldzaubers hütet, ist verschwunden. Ohne ihn verliert der Wald seine Kraft.“
Das Pferd spürte Mut in seiner Brust. „Dann helfe ich euch. Zeigt mir den Weg.“ Die Elfen sprangen sofort aufgeregt umher. „Wir haben gesehen, dass der Fuchs mit den funkelnden Augen etwas in seiner Höhle versteckt hat!“
Gemeinsam machten sie sich auf die Suche. Der Weg führte sie durch Dornenhecken, über kleine Flüsse und vorbei an geheimnisvollen Schatten. Doch das Pferd fühlte keine Angst, denn es wusste, dass der Waldzauber bei ihm war. Schließlich erreichten sie eine Höhle, aus der goldenes Licht schimmerte.
Der Fuchs trat heraus, sein Fell glänzte rot wie Feuer, und seine Augen funkelten schlau. „Ah, ihr sucht wohl den Kristall,“ sagte er mit einem listigen Grinsen. „Ich habe ihn genommen, weil ich allein sein Glitzern bewundern wollte. Doch vielleicht überzeugt ihr mich, ihn zurückzugeben.“
Das Pferd trat mutig vor. „Lieber Fuchs, der Kristall gehört nicht dir allein. Er lässt den ganzen Wald leben. Wenn du ihn behältst, verlöschen die Blumen, verstummen die Lieder und verschwinden die Elfen.“
Der Fuchs senkte den Kopf und seufzte. „Ich wollte nur etwas Schönes für mich haben. Aber du hast recht. Es wäre traurig, wenn der ganze Wald darunter leiden müsste.“ Dann holte er den Kristall hervor, der so hell strahlte, dass die ganze Höhle leuchtete.
Das Pferd nahm ihn vorsichtig und brachte ihn zurück auf die Lichtung. Der alte Baum öffnete seine Äste, und der Kristall schwebte in seine Mitte, wo er noch heller erstrahlte. Sofort sangen die Vögel, die Blumen begannen wieder zu glühen, und der ganze Wald atmete auf.
Die Tiere jubelten, die Elfen tanzten, und der Fuchs trat schüchtern hinzu. Das Pferd stupste ihn sanft an und sprach: „Schönes gehört allen, wenn man es teilt.“ Der Fuchs lächelte und versprach, den Waldzauber von nun an zu schützen.
Nach vielen Spielen und Tänzen führte der Waldzauber das Pferd zu einer geheimen Lichtung, auf der Blumen wuchsen, die nur nachts ihre Blüten öffneten. Sie glühten wie kleine Lampen und verströmten einen süßen Duft, der alle müde und friedlich machte. Die Elfen kuschelten sich in die Blüten, die Eichhörnchen rollten sich auf Moospolstern zusammen, und die Eulen sangen ein Schlaflied, das sanft durch die Zweige wehte.
Der Wald flüsterte leise: „Nun ruhe dich aus, kleines Pferd. Der Waldzauber wird dich immer beschützen, solange du dein Herz offen hältst.“
Langsam kehrte das Pferd zurück zu seiner Herde. Es legte sich in das Gras der Wiese, während im Hintergrund der Wald geheimnisvoll glitzerte. Doch in seinen Träumen galoppierte es weiter durch die funkelnden Lichtungen, flog über die Baumwipfel und lachte mit den Elfen, während der Waldzauber still über es wachte.
So schlief das fliegende Pferd glücklich und geborgen ein, und es wusste: Jeder Abend würde ein neues Abenteuer bringen, solange der Wald seine Zauberkräfte mit ihm teilte.




