Auf der Spur des verschwundenen Drachenschatzes - eine Gute-Nacht-Geschichte mit Drachen
- Michael Mücke

- 14. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Es war einmal in einem kleinen, abgelegenen Dorf, das tief im Schatten der Nebelberge lag. Die Menschen, die hier lebten, waren einfache Bauern, Jäger und Handwerker. Sie führten ein ruhiges Leben und sprachen nur selten über die fernen Städte oder die weite Welt.
Doch in den langen Winternächten, wenn der Wind heulte und der Schnee wie ein dicker Teppich über die Hügel zog, erzählten sich die Dorfbewohner Geschichten – Geschichten von längst vergessenen Zeiten und großen Abenteuern.
Eine dieser Geschichten war die von dem Drachen und seinem Schatz.
Es hieß, der Drache sei einst der mächtigste Wächter des gesamten Landes gewesen. In einer Höhle tief in den Nebelbergen hatte er einen unermesslich wertvollen Schatz bewacht – einen Schatz aus Gold, Edelsteinen und anderen Reichtümern, den niemand je gesehen hatte.
Der Drache war stark und weise, und seine Schuppen funkelten wie ein Regenbogen, wenn die Sonne auf sie schien. Doch eines Tages, so hieß es, verschwand der Drache. Niemand wusste, wohin er gegangen war, und der Schatz blieb verschwunden.
Doch die Legende lebte weiter, und es wurde gemunkelt, dass der Drache den Schatz in eine geheime Höhle versteckt hatte, die nur die Mutigsten und Klügsten finden konnten.
In diesem Dorf lebte ein Junge namens Emil. Emil war kein gewöhnlicher Junge.
Während die anderen Kinder in seinem Alter mit ihren Freunden spielten oder halfen, das Vieh zu versorgen, träumte Emil von fernen Ländern, alten Legenden und verborgenen Schätzen. Besonders die Geschichte des Drachen hatte es ihm angetan.
Jede Nacht, wenn er im Schein des Kaminfeuers saß, hörte er gespannt den Erzählungen der alten Dorfbewohner zu, die von den gefährlichen Reisen und den schrecklichen Prüfungen sprachen, die man bestehen musste, um den Drachen und seinen Schatz zu finden. Emil wusste, dass er eines Tages dieses Abenteuer bestehen würde.
„Du bist noch ein Junge, Emil. Der Drache ist ein Mythos, und die Berge sind voller Gefahren,“ sagte der alte Schmied, als er Emil eines Tages beim Spielen im Dorf sah. „Viele haben es versucht, aber niemand ist zurückgekehrt.“
Doch Emil hörte nicht auf die warnenden Worte. Er war fest entschlossen, der Legende auf den Grund zu gehen. In einer stürmischen Nacht, als der Regen in dicken Strömen vom Himmel fiel und der Wind die Bäume bogen, packte er seine Sachen.
Ein altes Messer, das ihm sein Vater geschenkt hatte, eine flache Kerze, die im Wind nicht erlöschen konnte, und eine kleine Tasche mit Proviant. Er zog seinen Mantel enger um sich und trat hinaus in die Dunkelheit.
Die ersten Stunden waren still und einsam. Der Weg führte Emil durch dichte Wälder, deren Bäume wie riesige Schatten über ihn ragten. Der Boden war matschig und das Moos glitschig. Emil hörte nur das Rauschen des Windes und das Knacken der Äste.
Doch je weiter er ging, desto mehr spürte er die Präsenz der Berge um sich. Es war, als ob der Berg selbst mit ihm sprach und ihn herausforderte, weiterzugehen.
Am nächsten Morgen erreichte Emil einen steilen Abhang.
Der Regen hatte nachgelassen, aber die Wolken hingen immer noch tief und schürten eine unheimliche Stille. Der Berg war nun so hoch, dass Emil sich nicht sicher war, ob er den Gipfel je erreichen würde. Doch er blieb ruhig und setzte einen Fuß vor den anderen, immer weiter, Schritt für Schritt.
Nach mehreren Tagen des Wanderns erreichte Emil das untere Ende des Nebelgebirges. Der Weg war schmal und verworren, und Emil begann zu ahnen, dass er sich in den tiefen, vergessenen Teilen des Berges befand, von denen in den Geschichten gesprochen wurde.
Doch da war noch nichts zu sehen – keine Höhlen, kein Schatz, nichts, was die Legende versprach. Nur Stille und Dunkelheit. Emil war müde und hungrig, aber seine Entschlossenheit trieb ihn voran.
Eines Nachmittags, als er gerade eine kleine Rast eingelegt hatte, bemerkte Emil etwas Seltsames. Auf dem Boden vor ihm war eine Spur. Sie war kaum zu erkennen, doch Emil hatte ein gutes Auge für Details.
Es war eine leicht erhabene Linie im Moos, die sich in eine Richtung zog. Neugierig folgte er der Spur, und nach einer Weile führte sie ihn zu einer gigantischen Felsenwand, die vom Moos und Efeu bedeckt war.
Doch als Emil genauer hinsah, entdeckte er, dass in der Wand eine Art Tür verborgen war – eine Tür, die so geschickt in den Felsen eingearbeitet war, dass sie fast unsichtbar war.
Er drückte gegen die Wand, und zu seiner Überraschung öffnete sich die Tür langsam, als ob sie auf ihn gewartet hätte.
Dahinter lag ein dunkler Tunnel, der tief in den Berg führte. Ohne zu zögern betrat Emil den Tunnel. Der Gang war eng und der Boden steinig, aber er konnte das entfernte Glitzern von etwas sehen – etwas, das ihm sofort auffiel.
Es war der Schatz.
In einer gigantischen Kammer, die von großen Felsen umgeben war, lag ein riesiger Haufen aus Gold, Edelsteinen und uralten Artefakten. Doch der wahre Schatz, so wusste Emil, war nicht das, was er sah. Der Schatz, nach dem er suchte, war der Drache selbst.
Und dann, als er sich weiter in die Kammer wagte, spürte Emil plötzlich eine seltsame Kälte. Die Luft wurde schwer, und er hörte ein tiefes Grollen. Eine gewaltige Gestalt erhob sich aus den Schatten – der Drache.
Doch dieser Drache war nicht, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Er war alt, seine Schuppen waren verblasst, und seine Augen schimmerten mit einer tieferen Weisheit, als Emil je gesehen hatte.
„Warum suchst du meinen Schatz?“ fragte der Drache mit einer Stimme, die wie das Rauschen eines Wasserfalls klang.
Emil trat einen Schritt zurück, doch er antwortete ruhig: „Ich habe nicht nach Gold gesucht, sondern nach der Wahrheit.“
Der Drache musterte ihn eine lange Weile, dann sprach er mit einer Stimme, die nun sanfter klang. „Du bist der erste, der diese Höhle mit reinem Herzen betritt. Viele kamen, getrieben von Gier, aber du suchst nach Wissen.“
Der Drache erzählte Emil, dass er der letzte seiner Art war, der die Welt gesehen hatte. Er hatte den Schatz nicht aus Habsucht gehortet, sondern weil er eine Lektion für die Zukunft der Welt bewahren wollte.
„Wahre Reichtümer sind nicht aus Gold,“ sagte der Drache, „sie liegen in den Dingen, die du lernst, in den Freundschaften, die du schließt, und in den Werten, die du in dir trägst.“
Und so, nachdem Emil den Drachen getroffen hatte, wusste er, dass der wahre Schatz nicht in den Edelsteinen oder dem Gold lag, sondern in der Weisheit, die er durch den Drang, die Wahrheit zu suchen, gewonnen hatte.
Emil kehrte zurück ins Dorf, und von diesem Tag an erzählte er den Menschen die wahre Geschichte des Drachen. Nicht von einem Schatz aus Reichtümern, sondern von einem Schatz der Erkenntnis und der Weisheit, den jeder finden kann, wenn er nur mit reinem Herzen sucht.




