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Ruffy und der verlorene Wolfshäuptling - eine Geschichte mit einem Wolf

  • Autorenbild: Michael Mücke
    Michael Mücke
  • 18. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit
Ruffy der Wolfshäuptling steht auf einem Stein und beobachtet den Wald

Der Mond hing wie eine silberne Sichel über dem Tal der Wölfe, und sein Licht spiegelte sich auf den Schneefeldern, die sich bis zu den dunklen Berghängen erstreckten. Inmitten dieses stillen, schimmernden Landes wanderte Ruffy, ein junger grauer Wolf mit wachen Augen, doch gesenktem Blick. Seine Pfoten hinterließen tiefe Spuren im Schnee, die der Wind leise wieder verwehte. Er hatte das Rudel vor drei Nächten verlassen – ohne zu wissen, ob er je zurückkehren würde.


Ruffy war ein Wolf voller Zweifel. Obwohl er stark und flink war, fühlte er sich nie so mutig wie die anderen. Immer glaubte er, nicht gut genug zu sein, um ein Anführer zu werden, und die Erwartungen seines Rudels lasteten schwer auf seinem Herzen. „Ich bin kein Held,“ hatte er sich eingeredet, als er aufbrach. Doch die Worte der alten Wölfin Lura hatten ihn verfolgt, seit er sie gehört hatte.


„Der Häuptling ist verloren,“ hatte sie mit zitternder Stimme gesagt, „und nur der Wolf mit dem wahren Herzen wird ihn finden.“


Ruffy wusste nicht, warum sie gerade ihn gemeint hatte. Er, der immer gezögert hatte, der lieber beobachtete als führte. Doch in jener Nacht, als das Rudel vom Sturm überrascht wurde und die Winde wie Wölfe heulten, hatte Lura ihn beiseite genommen. Ihre Augen hatten im Feuerschein geglänzt, und sie hatte geflüstert: „Manchmal, Ruffy, sucht der Mut uns, nicht wir ihn.“


Seitdem war er unterwegs. Die Kälte kroch unter sein Fell, der Hunger nagte an seinen Rippen, doch er gab nicht auf. Die Spuren, die er verfolgte, führten in die Berge, zu den Nebelklippen, wo die Alten sagten, dass Geister hausten. Ruffy hatte keine Angst vor Geistern – er fürchtete nur das Gefühl, zu versagen.


Eines Abends, als die Sonne sich hinter den Gipfeln verbarg, fand er sich in einem alten Wald wieder. Die Bäume waren so hoch, dass ihre Kronen den Himmel verdeckten. Schnee fiel lautlos auf die Erde, und irgendwo in der Ferne sang eine Eule ihr trauriges Lied. Plötzlich hörte Ruffy ein Knacken. Zwischen den Bäumen erschien ein Wolf – groß, schwarz und mit einem Fell, das im Mondlicht schimmerte.


Ruffy erstarrte. „Bist du... der Häuptling?“ fragte er vorsichtig.


Der schwarze Wolf lächelte nicht. Seine Augen wirkten alt, fast uralt, und seine Stimme klang wie das Echo des Windes. „Ich bin, was du suchst, und doch nicht der, den du findest,“ sprach er. „Der Häuptling ist weder fern noch nah. Er schläft in einem Herzen, das sich selbst nicht sieht.“


Bevor Ruffy antworten konnte, verschwand der Wolf im Nebel, so lautlos, als wäre er nie da gewesen. Ruffy blieb zurück, verwirrt und voller Fragen. Er wusste nicht, ob das eine Vision war oder Wirklichkeit. Doch die Worte hallten in ihm nach.


Er setzte seinen Weg fort, über gefrorene Flüsse und durch endlose Täler. Einmal stürzte er in eine tiefe Schlucht, aus der er sich nur mit Mühe befreien konnte. Ein anderes Mal rettete er ein verletztes Reh aus einem Dornenbusch, obwohl er selbst kaum Kraft hatte. Das Tier sah ihn dankbar an, und für einen Augenblick fühlte Ruffy sich nicht klein, sondern stark.


Am vierten Tag fand er eine Höhle, verborgen hinter einem gefrorenen Wasserfall. Das Eis glitzerte im Mondlicht wie tausend kleine Sterne. Er schob sich hindurch und betrat den stillen Raum. Im Inneren fand er alte Zeichnungen an den Wänden – Wölfe, Monde, Spuren, Symbole. Und in der Mitte lag ein Stein, so glatt und hell, dass er wie von selbst leuchtete.


Darauf stand eine Inschrift: „Der Häuptling schläft nicht – er erwacht in dem, der glaubt.“


Ruffy starrte auf die Worte. Sie brannten sich in sein Herz, aber er verstand sie nicht. Er suchte nach einem Hinweis, einem Zeichen, irgendetwas, das ihm den Weg wies. Doch da war nichts. Kein Wolf, kein Ruf, nur die Stille. Enttäuscht legte er sich nieder und schloss die Augen.


Er träumte. Im Traum stand er auf einer weiten Ebene. Über ihm leuchtete der Mond, heller als je zuvor. Wölfe erschienen um ihn herum – Dutzende, Hunderte, alle blickten ihn an. Ihre Augen glühten, ihre Körper schimmerten wie Schatten aus Licht. Eine Stimme erhob sich, tief und ehrfurchtgebietend: „Ruffy, warum suchst du, was längst in dir lebt?“


Er blickte um sich, verwirrt. „Ich suche den Häuptling,“ antwortete er. „Ich muss ihn finden, um das Rudel zu retten!“


Die Stimme antwortete sanft: „Du hast ihn längst gefunden. Denn der Mut, die Liebe, die Sorge um dein Rudel – all das ist die Seele des Häuptlings. Du bist, was du suchst.“


Ruffy erwachte mit einem Schrei. Sein Herz pochte, und er fühlte eine seltsame Wärme, die ihn von innen durchströmte. Zum ersten Mal sah er klar. Er erinnerte sich an all die Male, in denen er geholfen, geschützt, getröstet hatte – nicht aus Pflicht, sondern aus Güte.


Langsam trat er aus der Höhle. Die Sonne ging gerade über den Bergen auf, und das Licht malte goldene Streifen auf den Schnee. Ruffy hob den Kopf und spürte den Wind in seinem Fell. Dann stieß er ein langes, kräftiges Heulen aus. Es war kein Ruf der Angst mehr, sondern der Stärke.


Das Echo rollte durch die Täler, über Flüsse und Wälder, bis es das Rudel erreichte, viele Meilen entfernt. Einer nach dem anderen hoben sie ihre Stimmen, bis der ganze Himmel vom Gesang der Wölfe erfüllt war.


Ruffy stand auf dem Felsen, das Herz leicht und voller Klarheit. Er wusste, dass er zurückkehren musste. Nicht, um den Häuptling zu bringen – sondern, um der Häuptling zu sein.


Als er das Rudel wiederfand, kamen sie ihm entgegen, neugierig und voller Ehrfurcht. Die alte Lura trat vor, ihre Augen funkelten im Abendlicht. „Du hast ihn gefunden, nicht wahr?“


Ruffy nickte langsam. „Ja,“ sagte er leise. „Aber nicht dort draußen. Ich habe ihn hier gefunden.“ Er legte eine Pfote auf seine Brust.

Lura lächelte. „Dann bist du bereit.“


Und in dieser Nacht, unter einem endlosen Sternenhimmel, heulte das Rudel vereint – nicht, weil sie ihren alten Anführer zurückgewonnen hatten, sondern weil ein neuer geboren worden war.


Der Wind trug ihr Lied über die Berge, und irgendwo, in den Tiefen der Wälder, flüsterte die Stimme des schwarzen Wolfes: „Der Häuptling schläft nicht – er lebt in dem, der glaubt.“


Ruffy hob den Kopf, stolz und ruhig, und lächelte innerlich. Denn er wusste endlich, wer er war – nicht der Wolf, der zweifelte, sondern der, der führte. Und so zog der neue Häuptling des Rudels mit seinen Brüdern und Schwestern in die Nacht, während der Mond über ihnen wachte und die Sterne sangen.

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