Ein neuer Superheld ist in der Stadt - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 20. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Mai

In der Stadt Windhafen, wo die Dächer steil wie Berge waren und die Nacht manchmal heller als der Tag schien, passierte etwas, das alles veränderte. Seit Wochen spürten die Menschen, dass etwas in der Luft lag. Es war nicht der übliche Duft nach frischem Brot oder Blütenstaub. Nein, es war etwas Geheimnisvolles. Etwas, das flackerte wie der Schweif eines Kometen.
Leo, ein neugieriger Junge mit einer roten Mütze und einer Vorliebe für Detektivgeschichten, hörte es zuerst. Es war ein merkwürdiges Geräusch – ein Zischen, gefolgt von einem leisen Surren, als ob ein Raumschiff zwischen den Häusern landen würde.
„Hast du das gehört?“, fragte Leo aufgeregt seine Schwester Nora, die gerade versuchte, ihre Drachenzeichnung zu beenden.
„Ich hab’s gehört. Es kam von den alten Lagerhäusern am Fluss. Wir müssen da hin!“, rief sie und griff sich ihre Taschenlampe.
Ohne zu zögern schlichen sie sich in der Nacht durch die Gassen, huschten über Pflastersteine und duckten sich hinter Mülltonnen, wenn ein Lichtschein auftauchte. Plötzlich blitzte es über ihren Köpfen. Etwas – oder jemand – sauste mit unglaublicher Geschwindigkeit vorbei. Eine goldene Linie blieb kurz am Himmel zurück, bevor sie sich auflöste.
„Was war das?“, keuchte Leo.
„Ein Jetpack? Ein Vogel? Ein fliegender Toaster?“, überlegte Nora laut.
Doch dann landete die Gestalt direkt vor ihnen – mit einem Wumms, der die Pfützen tanzen ließ.
Ein Mensch. Oder etwas, das wie ein Mensch aussah. Groß, in einen dunkelblauen Anzug gehüllt, mit einem Helm, der wie flüssiges Licht funkelte.
„Bleibt stehen! Keine Angst. Ich bin nicht euer Feind,“ sagte die Gestalt mit tiefer Stimme.
Leo trat einen Schritt nach vorn. „Wer bist du?“
„Ich bin Nox. Und ich bin hier, weil Windhafen in Gefahr ist.“
Sie trauten ihren Ohren kaum. Ein echter Superheld. In ihrer Stadt. Und er sprach mit ihnen!
„Vor drei Tagen ist ein altes Artefakt aus dem Museum verschwunden. Es war ein Schlüssel. Ein sehr gefährlicher. In den falschen Händen kann er ein Portal öffnen. Ein Portal zur Schattenwelt.“
Nora schluckte. „Schattenwelt? Ist das so schlimm, wie es klingt?“
„Schlimmer. Sie ist voller fliegender Ratten, blitzender Augen, donnernder Maschinen… und einer Königin, die alles in Dunkelheit stürzen will.“
Leo sah Nox entschlossen an. „Wir helfen dir. Sag uns, was wir tun müssen.“
Und so begann ihr erstes Abenteuer. Nox gab ihnen Armbänder – silbern, mit leuchtenden Linien darauf.
„Diese zeigen euch den Weg. Aber sie tun noch mehr. Wenn ihr an euch glaubt, werden sie euch beschützen.“
Sie zogen los. Über die Dächer der Stadt. Unter ihnen schlief Windhafen ruhig. Über ihnen jagten Sterne wie flinke Glühwürmchen über den Himmel.
Im alten Uhrenturm fanden sie die ersten Hinweise. Eine seltsame Rune war in den Boden gebrannt.
„Das ist Schattenmagie,“ flüsterte Nox. „Sie war hier.“
Sie, das war die Schattenkönigin. Und sie kam nicht allein.
Als sie tiefer in den Turm stiegen, bebte plötzlich der Boden. Eine riesige Maschine – halb Spinne, halb Dampfmaschine – brach durch die Wand. Sie zischte, stampfte, spie Rauch und Funken.
„In Deckung!“, rief Nox, während Leo und Nora sich hinter eine alte Standuhr warfen.
Nora griff nach einem Hebel an ihrem Armband. Plötzlich aktivierte sich ein Energieschild.
„Whoa! Ich habe ein Schild!“, rief sie begeistert.
„Und ich… hab einen Hakenwerfer!“, staunte Leo, als sich aus seinem Armband eine Seilspitze schoss und ihn auf eine höher gelegene Plattform zog.
Gemeinsam kämpften sie gegen die Maschine. Nox lenkte sie ab, während Leo mit seinem Seil Teile der Rüstung abriss. Nora sprang mutig auf den Rücken des Roboters und zog Kabel heraus, bis der Koloss mit einem letzten Knirschen in sich zusammenbrach.
„Das war unglaublich!“, rief Leo atemlos.
„Und das war erst der Anfang,“ sagte Nox ernst.
Sie folgten der Spur der Schattenmagie durch unterirdische Tunnel, überflutete Gassen und durch den verlassenen Vergnügungspark, wo alte Karussells im Wind knarrten.
Immer wieder begegneten sie Schattenwesen – dunkle Gestalten mit glühenden Augen. Doch mit Mut, klugem Denken und ihren neuen Fähigkeiten besiegten sie jedes Hindernis.
Endlich standen sie vor dem Portal. Es schwebte in der Luft, umkreist von schwarzen Ranken und Nebel, der flüsterte.
Und da war sie. Die Königin. Groß, mit einem Gewand aus Rauch, einem Zepter aus gefrorenem Licht.
„Ihr Kinder wollt mich aufhalten?“, höhnte sie.
„Nicht nur wir. Wir alle!“, rief Leo.
Die Armbänder begannen zu leuchten. Nox trat nach vorn. „Gemeinsam haben sie mehr Mut, als du je begreifen wirst.“
Ein Lichtstrahl schoss aus ihren Händen. Die Königin fauchte, wirbelte herum, ließ Schatten auf sie los – aber die Kinder hielten stand. Leo zog das Seil, Nora warf ihr Schild, Nox flog durch die Luft wie ein Komet.
Mit einem letzten, grellen Blitz zerplatzte das Portal – und die Königin verschwand in einem Schrei, der sich in Nebel auflöste.
Die Stadt war gerettet. Die Nacht wurde wieder still.
Nox lächelte zum ersten Mal. „Ihr habt Großes vollbracht. Ich werde weiterziehen. Aber Windhafen hat jetzt eigene Helden.“
Leo und Nora sahen sich an. Sie waren erschöpft, aber glücklich.
„Wir sind Superhelden.“, sagte Nora leise.
„Superhelden mit Hausaufgaben.“, fügte Leo hinzu und gähnte.
Sie kehrten heim, gerade rechtzeitig zum ersten Sonnenstrahl. Ihre Eltern ahnten nichts. Nur ihr kleiner Kater schnurrte merkwürdig zufrieden.
Seitdem wissen die Sterne über Windhafen:
Wenn Schatten drohen und die Nacht seltsame Geräusche macht – dann sind sie da. Leo. Nora. Und vielleicht kehrt auch Nox zurück.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Und nun: Schlafe gut, kleiner Abenteurer. Wer weiß – vielleicht bist du der nächste Superheld in deiner Stadt.
Gute Nacht.