Ein Herz für Monster unter dem Bett - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 5. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein kleiner Junge namens Emil, der in einem alten, knarzenden Haus am Rand eines dichten Waldes lebte. Das Haus war hoch und schief, mit Dachziegeln, die klapperten, wenn der Wind über sie strich, und einem Kamin, aus dem der Rauch manchmal wie Gesichter in den Himmel aufstieg.
Emil war sieben Jahre alt und hatte einen wilden Kopf voller Fragen. Tagsüber war er mutig wie ein Löwe, er kletterte auf Bäume, rannte durch das Unterholz und erzählte Geschichten, die so fantastisch waren, dass selbst seine Lehrerin heimlich lächeln musste.
Aber wenn die Sonne unterging, verwandelte sich Emils Mut in ein kleines, zitterndes Etwas, das sich unter seiner Bettdecke versteckte. Denn wenn das Licht gelöscht wurde, wenn die Schatten in seinem Zimmer länger wurden und der Wind am Fenster schabte, kroch das Kratzen wieder unter seinem Bett hervor.
Ein leises, rhythmisches Kratzen und manchmal, ganz leise, ein Kichern.
„Hhhihihihi…“
Emil hatte seinen Eltern davon erzählt. Sein Vater hatte geschmunzelt und gesagt: „Monster gibt’s nur in Geschichten, Junge.“ Seine Mutter hatte unter das Bett geschaut, ein paar Socken hervorgezogen und gelächelt: „Da ist nichts, Emil. Das kommt vom Träumen.“
Aber Emil wusste, was er hörte. Er träumte nicht.
Und eines Abends, als draußen der Regen gegen das Fenster klatschte und der Donner wie eine Riesenfaust an den Himmel pochte, beschloss Emil, es herauszufinden. Er nahm seine Taschenlampe, klemmte sich einen selbstgebastelten Papphelm auf den Kopf, flüsterte: „Jetzt oder nie…“ und warf die Decke zur Seite.
Er ließ sich vorsichtig auf den Bauch sinken, schaltete die Taschenlampe an und leuchtete unter das Bett.
Und da war es.
Nicht groß, nicht furchteinflößend, sondern ein kleines, rundliches Wesen mit zotteligem, bläulich-grünem Fell. Es hatte riesige bernsteinfarbene Augen, die fast das ganze Gesicht ausfüllten, eine Stupsnase, schiefe kleine Zähne, und an den Ohren hingen Knöpfe, wie sie Emil nur von alten Puppen kannte.
Das Wesen kreischte erschrocken auf, als das Licht es traf, duckte sich, fuchtelte mit den Armen und rief: „Ich war’s nicht! Ich hab nichts geklaut! Ich esse keine Kinder! Ich bin allergisch gegen Matratzenstaub!“
Emil zuckte zurück, dann starrte er. „Du… bist wirklich echt.“
Das Wesen blinzelte. „Natürlich bin ich echt. Und du hast mich erschreckt, das ist gemein. Ich wollte nur dein Albtraumherz bringen.“
„Mein… was?“
Das kleine Monster es stellte sich als Mumbel vor, kramte in einer Bauchtasche, die aus einem Stück alter Gardine bestand, und zog ein zerschlissenes Herz aus Stoff hervor. Es war mit buntem Garn genäht, hatte ungleichmäßige Stiche und roch ein wenig nach Kreide.
„Ein Mut-Herz,“ erklärte Mumbel und hielt es Emil hin. „Genäht aus den Fetzen deiner schlimmsten Träume. Nur wer sich seinen Ängsten stellt, bekommt eines.“
Emil nahm es vorsichtig. Als seine Finger das Herz berührten, wurde ihm warm ums Herz. Die Schatten im Zimmer wurden weicher, das Prasseln des Regens beruhigend – wie ein Schlaflied.
„Du bist kein Monster. Du bist…“
„Ein Herzmonster. Genauer gesagt: ein Bettmonster dritter Ordnung. Ich wohne unter Betten von Kindern mit zu viel Fantasie und zu wenig Schlaf. Und du bist… was Besonderes.“
In dieser Nacht redeten sie stundenlang. Emil erzählte von der Schule, von Frau Hempel, der Mathelehrerin mit dem Froschgesicht, von seinem großen Wunsch, einmal einen echten Drachen zu treffen. Mumbel erzählte von der Monsterwelt: Von Grollwuchs, dem Mottenmonster, das Bücher stibitzte, von Flatterflausch, dem Kuschelmonster mit Höhenangst, das in Hochbetten lebte, und von Knarrik, einem alten Monster, das in einer Kommode in Frankreich wohnte und Gedichte über Schuhe schrieb.
Emil hörte begeistert zu. Und dann, mit klopfendem Herzen, fragte er: „Kann ich… kann ich da mal hin? Zu euch?“
Mumbels Ohren zuckten. „Das geht nicht. Menschen können unsere Welt nicht betreten. Nicht… ohne Prüfung.“
„Welche Prüfung?“
Mumbel grinste schief. „Die Prüfung der Drei Nächte. Du musst drei Aufgaben bestehen: Die Stille hören. Den Schatten begegnen. Und dein Herz opfern.“
Emil schluckte. Das klang nicht gerade wie ein Spiel.
„Ich versuch’s,“ sagte er schließlich. „Ich will euch helfen. Ich will euch verstehen.“
In der ersten Nacht musste Emil ganz still liegen und durfte keinen Laut von sich geben , auch wenn die Dachziegel klapperten, die Schatten an der Wand tanzten und etwas über den Boden kroch. Emil hielt still. Er hörte, wie Mumbel unter dem Bett flüsterte:
„Hör zu. Nicht wegschauen. Die Angst will dich lenken. Hör sie an – aber folge ihr nicht.“
Und Emil hörte – wie seine Angst leiser wurde. Wie sie sich setzte, wie ein scheues Tier, das nur gesehen werden wollte.
In der zweiten Nacht erschien der Schatten. Er war groß, flackernd, mit leeren Augenhöhlen und langen Fingern, die nach Emil griffen.
Mumbel trat neben Emil und sagte laut: „Sprich deinen Namen, so laut du kannst!“
Emil schrie: „Ich bin Emil! Und ich hab keine Angst mehr vor dir!“
Da zischte der Schatten, wurde dünner, kleiner – und verpuffte wie Rauch im Wind.
In der dritten Nacht legte Emil das Herz, das er bekommen hatte, zurück unter das Bett. „Ich geb’s zurück. Für ein neues Kind. Jemand, der’s braucht.“
Und als der Morgen graute, war Mumbel verschwunden – aber unter dem Bett lag ein Schlüssel aus Holz und Papier, darauf eingeritzt: „Willkommen.“
In der nächsten Nacht schloss Emil die Augen und fand sich in der Monsterwelt wieder.
Ein riesiger Baum ragte in den Nachthimmel, an seinen Ästen hingen Betten wie Früchte, in denen Kinder schliefen. Monster huschten über Mooswege, trugen Lichtgläser, lasen Albträume wie Zeitungen und nähten Mut-Herzen aus Erinnerung und Lachen.
Mumbel wartete am Tor, die Ohren zitterten. „Du hast bestanden. Du bist einer von uns. Und du weißt jetzt: Monster unter dem Bett sind keine Feinde. Sie sind Wächter. Freunde. Und manchmal... Familie.“
Emil kehrte zurück, aber nun nie mehr allein.
Denn wenn das Licht gelöscht wurde, das Haus seufzte und der Wind durch die Ritzen sang, wusste Emil: Da unter dem Bett, wo einst nur Angst lebte, da pochte jetzt etwas ganz anderes.
Ein Herz.
Bumm. Bumm. Ich bin bei dir.