Die Sternenfängerin und der Wunschstern - Gute-Nacht-Geschichte
- Michael Mücke
- 18. Juni
- 4 Min. Lesezeit

Es war einmal ein Mädchen namens Livia, das am Rand eines großen Lavendelfeldes wohnte, wo der Wind nach Sommer roch und die Nächte besonders still waren. Das Dorf, in dem sie lebte, war klein und friedlich, und alle kannten einander. Livia war neugierig, verträumt und hatte eine lebhafte Fantasie, die ihr oft Türen zu unsichtbaren Welten öffnete.
Jeden Abend, kurz bevor sie schlafen ging, setzte sie sich ans Fenster ihres kleinen Zimmers im Dachgeschoss. Dort konnte sie den ganzen Himmel sehen, und der Himmel war für Livia wie ein riesiger Spielplatz voller Geheimnisse.
Sie kannte viele der Sterne mit Namen, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Da gab es den „Wackelstern“, der nie lange an einem Ort blieb, und den „Gähnenden“, der manchmal so träge funkelte, dass sie dachte, er wäre im Begriff einzuschlafen.
„Wenn ich nur einmal einen Stern berühren könnte… oder ihn fragen, was er so sieht, von da oben,“ flüsterte sie jeden Abend. Ihre Großmutter, die bei ihr wohnte und alte Geschichten liebte, hörte das oft und erzählte dann von der Sternenfängerin – einem Mädchen, das nachts durch den Himmel reiste, mit einem Netz, das aus Mondseide gewebt war.
„Sie sammelt besondere Sterne,“ sagte die Großmutter, „aber nicht für sich. Sie bringt sie zu Kindern, deren Gedanken nachts durch den Himmel wandern – Gedanken, die wie Drachen fliegen, wie Seifenblasen leuchten oder wie Kletterpflanzen in den Himmel wachsen.“
In dieser Nacht, während der Himmel fast türkis wirkte und der Mond wie eine große Perle leuchtete, wurde Livia von einem ganz eigenartigen Geräusch geweckt. Es war ein leises Knistern, wie das Flüstern von Schnee auf warmer Haut.
Als sie die Augen öffnete, sah sie über ihrem Bett einen winzigen, gläsernen Schmetterling schweben. Seine Flügel schimmerten wie Eiskristalle im Morgensonnenlicht, und jedes Mal, wenn sie sich bewegten, klang es wie leises Glockenspiel.
„Livia, die Nacht hat dich gerufen. Willst du fliegen?“ fragte der Schmetterling mit einer Stimme, die wie Tau auf Blütenblättern klang.
Livia nickte, ohne zu zögern. Sie schlüpfte aus dem Bett, trat auf das weiche Gras im Garten, und der Schmetterling wurde mit einem Flügelschlag groß genug, dass sie sich auf seinen Rücken setzen konnte.
Mit einem Kichern und einem kleinen Ruck hoben sie ab. Livia hielt sich am zarten Lichtgewebe seiner Fühler fest, während sie höher und höher stiegen, durch glitzernde Nebelringe, vorbei an schlafenden Vögeln und funkelnden Lichtspiralen, die aussahen wie Sternenkarussells.
Nach einer langen Reise durch die funkelnde Stille des Himmels kamen sie an einen Ort, der aussah wie eine Insel aus leuchtenden Pflanzen und schimmernden Steinen.
Dort, auf einer Lichtung aus schwebendem Moos, stand ein Mädchen mit einem Umhang aus Dämmerung und Sternenlicht. Ihr Haar war so dunkel wie die tiefste Nacht, aber durchzogen von glitzernden Fäden, als hätte der Himmel selbst es berührt.
„Willkommen, Livia. Ich bin die Sternenfängerin. Deine Gedanken sind so hell geflogen, dass ich sie schon von der Milchstraße aus gesehen habe.“
Livia trat vorsichtig näher. Überall um sie herum summten kleine Lichtkugeln, und der Boden schien aus leuchtendem Nebel zu bestehen, der bei jedem Schritt leise sang.
„Ich… ich hab einen Wunsch,“ flüsterte Livia.
„Ich möchte, dass jedes Kind beim Einschlafen ein Lied hört – eins, das nur für es gemacht ist. Ein Lied, das einem das Gefühl gibt, zu schweben, auch wenn man ganz ruhig liegt.“
Die Sternenfängerin nickte langsam. „Ein Wunsch wie dieser braucht keinen Zauber. Er braucht ein Lied, das fliegt. Und dafür brauchen wir einen besonderen Stern.“
Sie führte Livia zu einem silbernen Boot, das zwischen zwei Lichtbäumen schwebte. Gemeinsam stiegen sie ein. Das Boot glitt lautlos durch den Himmel, vorbei an Windbrücken, die von Schmetterlingen bewacht wurden, und an tanzenden Wolkenherden, die leise „schschsch“ flüsterten.
Schließlich erreichten sie ein verborgenes Tal aus Klang und Licht, wo Sterne nicht einfach nur funkelten – sie sangen. Jeder Stern hatte seine eigene Stimme, manche tief wie ein Kontrabass, andere hell wie Vogelgezwitscher im Frühling.
Plötzlich hörten sie ein zartes Flöten, das sich von allen anderen Stimmen unterschied. Ein kleiner, leicht schimmernder Stern drehte sich im Kreis und ließ glitzernde Noten regnen, die sich wie Seifenblasen verhielten – sie platzten nicht, sondern tanzten weiter.
„Da ist er,“ sagte die Sternenfängerin.
„Ein Wunschstern mit einem Lied im Inneren.“
Mit geschickten Händen warf sie ihr Netz aus Licht und Seide, und der kleine Stern hüpfte lachend hinein, als hätte er nur auf dieses Spiel gewartet. Er sang immer weiter, leise, aber fröhlich und seine Melodie klang wie Erinnerungen an warme Sommerabende, an geheimnisvolle Geschichten und an leise Schritte über Holzböden im Halbschlaf.
„Dieser Stern wird reisen. Er wird seine Melodie überallhin schicken, wo Kinder ihre Gedanken auf die Reise schicken. Und manche werden sein Lied sogar in ihren Träumen hören,“ sagte die Sternenfängerin.
Auf dem Rückflug blieb der Stern bei Livia. Er wurde kleiner, schwebte wie eine winzige Kugel aus Klang über ihrer Schulter, und sang nur noch für sie.
Als sie schließlich wieder durch ihr Fenster stieg und sich ins Bett legte, glitt er leise an ihren Nachttisch und verschwand in einer kleinen Dose aus Muschelschale, die dort zufällig stand. Nur Livia wusste, dass sie nun eine Melodiendose besaß, die einen echten Stern in sich trug.
Seit jener Nacht war alles ein kleines bisschen anders. Kinder im Dorf träumten ruhiger, lachten im Schlaf und summten beim Aufwachen Melodien, die sie nie zuvor gehört hatten. Und Livia, wenn sie am Fenster saß, hörte manchmal ein fernes Lied, das nur sie zu kennen schien.
„Gute Nacht, Livia,“ flüsterten dann die Sterne.
„Der Wunschstern singt weiter.“
Und irgendwo, über den Wäldern und Bergen, flog die Sternenfängerin weiter – bereit, das nächste Lied zu finden.
Ende.
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