Die Elfenschule für kleine Zauberer - magische Gute-Nacht-Geschichte zum Vorlesen
- Michael Mücke

- 9. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

In einem versteckten Tal, das auf keiner Karte zu finden war, lag die Elfenschule für kleine Zauberer. Sie war umgeben von silbernen Wäldern, deren Blätter in der Nacht leuchteten, und von Bächen, die im Mondlicht wie flüssiges Glas glitzerten. Kein gewöhnlicher Mensch konnte diesen Ort betreten, denn der Eingang erschien nur jenen, die ein Funkeln von Magie in sich trugen.
Die Schule selbst war aus hellem Mondholz gebaut, und die Dächer schimmerten wie gefrorenes Licht. Wenn der Wind durch die hohen Zweige strich, hörte man ein leises Klingen, als würden winzige Glöckchen in der Ferne antworten.
An diesem Abend begann ein neues Schuljahr, und viele kleine Zauberlehrlinge versammelten sich am Tor. Unter ihnen stand Lio, ein Junge mit wachen Augen und unruhigen Gedanken. Er hatte schon immer gespürt, dass es etwas Unsichtbares gab, das in der Luft vibrierte – eine Art Summen, das nur er hören konnte.
Jetzt war er endlich an einem Ort, wo dieses Gefühl Sinn ergab. „Ist das wirklich alles echt?“, flüsterte er, als er das schimmernde Tor betrachtete. „Oder träume ich?“
Das Tor öffnete sich ohne einen Laut, und eine kühle, sanfte Brise strich über Lios Gesicht. Dahinter lagen Gänge aus schimmerndem Stein, die wie flüssiges Licht im Boden pulsierten. Überall summten Stimmen, Kinder lachten, und in den Ecken flogen kleine Funken umher, die aussahen wie winzige Sterne.
Plötzlich erschien eine Elfe mit langen, silbrigen Haaren. Sie trug ein Kleid, das in jedem Licht anders schimmerte – einmal blau wie der Abendhimmel, dann violett wie Schatten im Morgengrauen.
„Willkommen an der Elfenschule für kleine Zauberer,“ sagte sie mit einer sanften Stimme. „Ich bin Mirabel, eure Lehrmeisterin. Heute beginnt euer erstes Kapitel im Buch der Wunder.“
Die Kinder folgten ihr in den Saal des Lichts, einen riesigen Raum mit durchsichtigen Wänden. In ihnen spiegelten sich die Sterne, obwohl draußen noch Tag war. Auf dem Boden schwebten leuchtende Linien, die sich bewegten, als hätten sie ihren eigenen Willen. Mirabel stellte eine Kristallkugel auf einen Sockel, und plötzlich füllte sich der Raum mit weichem Schimmer.
„Zauberei ist kein Trick,“ erklärte sie. „Sie ist ein Lauschen, ein Sehen, ein Fühlen. Wenn ihr aufmerksam genug seid, offenbart sich die Magie von selbst.“
Lio beobachtete, wie Mirabel ihre Hand über die Kugel hielt. In der Luft entstanden schwebende Lichter, die sich in Vögel verwandelten und leise flatternd davonflogen. Das sah so echt aus, dass Lio den Atem anhielt. Als er es selbst versuchte, glühte seine Hand leicht, und eine winzige Flamme erschien über seiner Haut. Sie zitterte, als wäre sie unsicher.
„Ganz ruhig,“ sagte Mirabel. „Magie braucht keine Eile.“ Lio konzentrierte sich, und die Flamme wurde klarer, fast durchsichtig. Für einen Moment schien sie zu lächeln.
Nach der Lektion führte Mirabel die Kinder hinaus in den Garten der Stimmen. Dort wuchsen Pflanzen, die in allen Farben leuchteten. Einige flüsterten, wenn man an ihnen vorbeiging, andere lachten, und manche summten leise Melodien.
„Jede Pflanze hier lebt mit eigener Magie,“ erklärte Mirabel. „Hört ihnen zu, und sie werden euch lehren.“ Lio beugte sich über eine Blume, deren Blätter wie Glas wirkten.
Sie zitterte leicht und flüsterte kaum hörbar: „Sieh nicht nur, was ist – sieh, was werden kann.“
Die Worte blieben in seinem Kopf hängen, während sie weitergingen.
Sie erreichten eine kleine Lichtung, auf der durchsichtige Schmetterlinge schwebten. Ihre Flügel hinterließen funkelnde Spuren in der Luft. Die Kinder lachten, doch Lio schwieg.
Er beobachtete, wie einer der Schmetterlinge auf seiner Hand landete. Für einen Moment sah er durch ihn hindurch und entdeckte, dass sich hinter der Lichtung ein ganzer See aus Nebel verbarg.
Am Abend kehrten alle zum Teich der Spiegel zurück, wo das Wasser so glatt war, dass es den Himmel doppelt trug. Mirabel stellte sich an den Rand und berührte die Oberfläche. Der See begann zu leuchten, als würde er atmen.
„Hier zeigt sich euer Inneres,“ sagte sie. „Was ihr seht, gehört zu euch.“
Lio kniete sich nieder und blickte ins Wasser. Zuerst sah er nur sein Gesicht, dann erschienen Lichter, die sich zu Mustern formten. Sie tanzten, glitten umeinander und stiegen aus dem Wasser auf. Ein leiser, heller Ton erfüllte die Luft, als wollten sie singen.
„Du siehst das Licht, das in allem wohnt,“ sagte Mirabel leise. „Das ist eine Gabe, die man nicht lernen, nur entdecken kann.“
Als der Mond aufging, führte Mirabel die Kinder in den Schlafsaal. Über jedem Bett schwebte eine kleine Kugel, die in sanften Farben leuchtete. Die Luft duftete nach Harz und Nachtblumen. „Ruht euch aus,“ sagte Mirabel. „Morgen werdet ihr lernen, wie man Träume webt, ohne sie zu zerreißen.“
Lio legte sich ins Bett und sah hinaus auf die funkelnden Baumkronen. In der Ferne hörte er ein leises Summen, das ihn an das Lied der Flamme erinnerte. „Vielleicht,“ murmelte er schläfrig, „träume ich heute von dem, was ich noch nicht verstehe.“
Und wirklich, als er die Augen schloss, begann die Luft über ihm zu glühen. Kleine Lichtwesen schwebten durch das Zimmer, zogen sanfte Bahnen und schrieben glitzernde Spuren in die Dunkelheit. Sie sangen ohne Worte, und die Melodie schien aus einer Welt zu stammen, die noch niemand ganz gesehen hatte.
So schlief Lio in dieser Nacht tief und ruhig ein. Über ihm glitten die Lichtwesen weiter, und in der Ferne leuchtete die Elfenschule still unter dem Sternenhimmel, als würde sie wachen, über alle kleinen Zauberer, die gerade lernten, dass die Welt viel größer war, als sie zu träumen wagten.




