Die beste Freundin der Meerjungfrau
- Michael Mücke
- 11. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Tief unten im glitzernden Ozean, weit hinter den Korallenriffen und jenseits der Wasserstraße, wo nur noch Seesterne und Mondfische wohnen, lebte die Meerjungfrau Liora. Ihre schimmernden Schuppen leuchteten in allen Grüntönen des Waldes, und wenn sie lachte, klang es wie das Klingeln kleiner Muschelglocken.
Liora war eine neugierige und sanfte Meerjungfrau. Sie kannte fast jedes Lebewesen in ihrer Umgebung – die singenden Seepferdchen, die verträumten Rochen, den alten Einsiedlerkrebs Brummel und sogar die flatterhaften Quallen, die im Dunkeln leuchteten wie Glühwürmchen unter Wasser.
Trotz all dieser Bekanntschaften fühlte sich Liora oft einsam. Die anderen Meeresbewohner kamen und gingen, waren freundlich, aber nie lange. Niemand schien mit ihr die gleichen Träume zu teilen. Und sie sehnte sich nach jemandem, dem sie alles erzählen konnte – ihre Gedanken, ihre kleinen Geheimnisse, ihre Fantasien.
Eines Morgens, als sie an der Wasseroberfläche lag und die Wolken zählte, seufzte sie tief. „Ich wünsche mir eine beste Freundin. Eine, die mich wirklich kennt und mit der ich lachen, weinen und träumen kann.“
Noch am selben Tag packte sie ein kleines Beutelchen aus Muschelstoff, füllte es mit getrocknetem Algenbrot, einer Flasche Quellwasser und einem Notizstein – ihr kleines Reisetagebuch – und machte sich auf den Weg. Sie würde hinaus in die unbekannten Gewässer schwimmen. Vielleicht, so hoffte sie, wartete dort draußen irgendwo ihre beste Freundin.
Sie schwamm durch dichte Tangwälder, wo das Licht nur noch in goldenen Streifen durchdrang. Sie gleitete an versunkenen Städten vorbei, deren Türme wie verzauberte Schlösser aus den Tiefen ragten. Bunte Fischschwärme begleiteten sie eine Weile, doch bald war sie wieder allein.
Gerade als sie sich fragte, ob sie umkehren sollte, entdeckte sie ein flackerndes, sanft pulsierendes Licht unter einem kleinen Felsvorsprung. Neugierig tauchte sie tiefer – und sah dort ein kleines Tier mit acht dünnen Armen, einem glatten, schimmernden Körper und leuchtenden Augen, die sie aufmerksam musterten. Es war ein junger Tintenfisch, der mit seinen Armen auf den Meeresboden zeichnete.
„Oh! Was machst du da?“ fragte Liora und näherte sich vorsichtig.
Der Tintenfisch zuckte zusammen, versteckte sich kurz hinter einem Stein, lugte dann aber vorsichtig hervor. „Ich… male. Mit Algensaft. Ich heiße Elio.“
Liora setzte sich neben ihn und betrachtete seine Zeichnungen. Da waren Seesternfamilien, tanzende Delfine und sogar ein Oktopus mit einer Krone.„Das ist wunderschön. Ich bin Liora. Möchtest du vielleicht… zusammen malen?“
Von da an waren die beiden unzertrennlich.
Sie verbrachten die Tage damit, neue Farben aus Muschelschalen zu gewinnen, mit Delfinen zu singen oder kleine Geschichten zu erfinden, die sie mit Bildern in den Sand malten. Liora erzählte Elio von ihrer Korallenhöhle, und Elio zeigte ihr seine Sammlung aus leuchtenden Steinen, die er in einer geheimen Felsspalte versteckt hielt.
An einem besonders klaren Abend schwammen sie zur Oberfläche, wo der Himmel in Rosa und Orange leuchtete. Die Sonne schickte goldene Strahlen über das Wasser, und kleine Wellen plätscherten sanft um sie herum.
„Ich hab noch nie mit jemandem so viel gelacht,“ sagte Liora leise. „Du bist wie das Pünktchen auf meinem Lieblingslied.“
Elio kicherte.„Und du bist wie ein warmer Sonnenstrahl im kalten Tiefsee-Winter.“
Doch eines Morgens verdunkelte sich das Wasser. Die Strömung wurde unruhig, Fische huschten nervös hin und her, und die Muscheln schlossen sich ängstlich. Gorom, der riesige, grummelige Zackenbarsch, war zurück. Er war dafür bekannt, anderen Meeresbewohnern das Leben schwer zu machen und besonders gern friedliche Orte zu stören.
Er tauchte direkt über dem kleinen Unterwasserplatz auf, den Liora und Elio mit Muschellampen geschmückt hatten.„Was ist das hier für ein Kinderkram? Das gehört ab sofort mir!“ brüllte er und fächelte mit seiner riesigen Schwanzflosse Sand auf.
Liora stellte sich mutig vor Elio. „Das ist unser Platz. Du kannst ihn nicht einfach nehmen!“
„Ach ja? Was willst du dagegen tun, Glitzerflosse?“ grummelte Gorom.
Doch Elio hatte längst einen Plan. Flink wie der Wind schoss er an Gorom vorbei, sprühte eine riesige Tintenwolke ins Wasser und rief laut: „Jetzt, Liora!“
Liora blies in eine große Schneckentrompete – das geheime Signal. Plötzlich tauchten von allen Seiten Freunde auf: ein Schwarm Kugelfische blähte sich auf und versperrte Gorom die Sicht, eine Gruppe Krabben zog an seinen Barteln, und die Seepferdchen sausten wie Pfeile um ihn herum. Verwirrt und zornig brummelte Gorom, drehte sich um – und verschwand in einer Staubwolke aus Sand.
Die Bewohner des Riffs jubelten. Liora und Elio wurden als Helden gefeiert. Sie schmückten ihre Grotte mit neuen, leuchtenden Quallen und bekamen sogar eine eigene Muschelbank, auf der ihre Namen eingraviert wurden.
Spät in der Nacht, als die See still war und nur das Glitzern des Sternenhimmels durch die Wellen sickerte, saßen Liora und Elio eng nebeneinander.„Glaubst du, wir werden für immer Freunde bleiben?“ fragte Liora leise.
„Für immer und drei Meilen weiter,“ flüsterte Elio mit einem Lächeln.
„Auch wenn wir mal alt sind und Moos auf dem Kopf tragen.“
Sie kicherten, hielten sich an den Flossen – und schliefen ein, begleitet vom sanften Singen der Wale und dem friedlichen Rauschen der Tiefe.