Der weiße Tiger und die ewige Sonne - eine tierische Geschichte zum Einschlafen
- Michael Mücke

- 9. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

In einem weiten, grünen Tal am Rand eines indischen Naturreservats lebte ein junger weißer Tiger namens Shiro. Sein Fell leuchtete im Morgenlicht wie Schnee, und seine Augen schimmerten golden wie die Sonne selbst.
Die Menschen, die im Reservat arbeiteten, nannten ihn manchmal „den Geist des Waldes“, weil er sich so lautlos bewegte und doch alles um ihn herum lebendig werden ließ.
Shiro liebte das Licht. Jeden Tag wartete er darauf, dass die Sonne zwischen den Hügeln auftauchte und die Welt in Gold tauchte. Er legte sich dann auf einen großen, flachen Stein am Flussufer, auf dem das Licht besonders schön glitzerte. Dort blieb er lange liegen, schloss die Augen und sog die Wärme tief in sich auf.
„Bleib bei mir, Sonne,“ flüsterte er oft, „die Welt ist heller, wenn du da bist.“
Doch eines Jahres veränderte sich alles. Die Regenzeit dauerte länger als gewöhnlich, und schwere Wolken hingen wochenlang über dem Tal. Der Himmel blieb grau, der Wind kühlte die Luft, und die Sonne zeigte sich kaum noch. Der Boden wurde nass und matschig, und viele Tiere zogen weiter, um trockenere Orte zu finden.
Shiro blieb zurück. Er hatte sich nie weit von seinem Tal entfernt. Die Sonne fehlte ihm, und mit jedem Tag wurde er unruhiger. Er schlief schlecht, jagte weniger und fühlte sich schwächer. Es war, als hätte jemand sein inneres Feuer gelöscht.
Eines Nachmittags, als der Regen endlich nachließ, hörte Shiro ein dumpfes Brummen aus der Ferne. Er folgte dem Geräusch durch den Nebel, bis er an eine Lichtung kam, auf der ein alter Elefant stand.
Sein Fell war mit grauer Erde bedeckt, und seine Haut war voller Falten, die wie Landkarten vergangener Reisen aussahen. Der Elefant bemerkte Shiro, nickte freundlich und sagte mit tiefer Stimme: „Du bist der weiße Tiger, von dem man spricht.“
Shiro neigte leicht den Kopf. „Und du bist sicher der Weise, den man den Hüter des Tales nennt,“ antwortete er. Der Elefant lächelte sanft. „Man nennt mich Bhanu,“ sagte er, „was Sonne bedeutet. Ein seltsamer Name für einen, der sie so selten sieht.“
Shiro setzte sich und seufzte. „Ich verstehe nicht, warum sie nicht mehr scheint. Früher war sie immer da. Jetzt scheint sie mich vergessen zu haben.“
Bhanu hob langsam seinen Rüssel und zeigte auf den Himmel.
„Die Sonne verschwindet nicht,“ sagte er ruhig. „Sie ist nur verborgen. Manchmal liegt es an den Wolken, manchmal an uns selbst. Wir sehen nur das, was wir suchen – und du suchst zu sehr nach dem, was fehlt.“
Shiro runzelte die Stirn. „Wie kann man nicht nach der Sonne suchen, wenn man sie liebt?“ fragte er.
Bhanu lachte leise. Es klang wie fernes Donnergrollen. „Manchmal findet man das Licht, wenn man anderen hilft, es zu sehen. Die Sonne ist nicht nur oben am Himmel, Shiro. Sie ist in den Dingen, die du tust, und in dem, was du gibst.“
Shiro verstand diese Worte nicht ganz, doch sie ließen ihn nicht los. In den folgenden Tagen wanderte er durch das Tal, suchte nach Tieren, denen er helfen konnte. Er fand einen verletzten Pfau, dessen Flügel im Dornenbusch feststeckten, und befreite ihn vorsichtig.
„Hab keine Angst,“ sagte Shiro sanft, „du bist gleich frei.“ Der Pfau zitterte, aber als er losflog, funkelte sein Gefieder trotz des grauen Himmels.
Später fand Shiro eine Gazelle, die ihr Junges verloren hatte. Er folgte den Spuren im Schlamm, bis er das kleine Tier am Fluss entdeckte. Mit geduldiger Ruhe führte er es zurück zu seiner Mutter. Als sie sich wiederfanden, hörte Shiro das leise, dankbare Blöken und spürte zum ersten Mal seit Wochen etwas Warmes in seiner Brust.
Tag für Tag wurde das Tal heller – nicht, weil die Sonne schien, sondern weil Shiro sich verändert hatte. Er begann, auch in den trüben Tagen Schönheit zu sehen. Das Tropfen des Wassers von den Blättern, das Schimmern der nassen Steine, das leise Summen der Insekten – alles wirkte lebendig.
Eines Morgens, viele Wochen später, stand Shiro wieder auf seinem Lieblingsstein am Fluss. Der Nebel war dünner geworden, und in der Ferne brach ein schwacher Lichtstrahl durch die Wolken. Er hörte ein tiefes Trompeten – Bhanu war zurück. Der alte Elefant trat langsam aus dem Wald und sah zu Shiro hinüber.
„Ich sehe, du hast dein Licht gefunden,“ sagte Bhanu mit einem Lächeln.
Shiro sah zum Himmel. Der Strahl wurde breiter, golden und warm. Die Sonne kam zurück, langsam, aber sicher.
„Ich habe gelernt,“ sagte Shiro ruhig, „dass die Sonne nie wirklich fort ist. Manchmal muss man nur Geduld haben – und anderen helfen, sie wiederzufinden.“
Bhanu nickte. „Dann bist du weiser geworden, mein Freund. Die Sonne liebt jene, die ihr Licht weitertragen.“
Als der Tag heller wurde, kam der Pfau aus dem Wald, breitete seine bunten Federn aus und drehte sich im goldenen Schein. Die Vögel sangen, das Wasser glitzerte, und Shiro legte sich wieder auf seinen Stein.
Er schloss die Augen und lächelte. „Danke, Sonne,“ flüsterte er, „dass du mich gelehrt hast, zu leuchten, selbst wenn du dich versteckst.“
Von da an war Shiro kein Tiger mehr, der die Sonne suchte. Er war der Tiger, der sie in sich trug – und das ganze Tal leuchtete ein kleines bisschen heller, wann immer er vorbeiging.




