Die lebendig gewordene Zeichnung - Gute-Nacht-Geschichte für Kinder zum Vorlesen
- Michael Mücke
- 23. Juni
- 4 Min. Lesezeit

In einem kleinen, ruhigen Tal, versteckt zwischen sanften Hügeln und alten Wäldern, lag ein Dorf, das nur wenige Menschen kannten. Die Häuser dort waren mit roten Ziegeldächern gedeckt, und aus jedem Schornstein stieg im Winter duftender Rauch.
Die Kinder spielten auf den Wiesen, und die Erwachsenen kannten sich alle beim Namen. Es war ein Ort, an dem die Zeit ein wenig langsamer verging.
In einem der Häuser am Rande des Dorfes lebte ein Mädchen namens Mira. Mira war acht Jahre alt, hatte wildes, dunkles Haar, das sich nie richtig bändigen ließ, und große, neugierige Augen, die stets schimmerten, als würden sie nach Geheimnissen suchen. Mira liebte es zu zeichnen. Nicht einfach nur ein bisschen, sondern mit ganzer Seele.
Während andere Kinder draußen Fangen spielten oder mit ihren Drachen rannten, saß Mira oft in ihrem Zimmer unter dem schrägen Dach und malte. Auf ihrem Schreibtisch lagen stapelweise Skizzenblöcke, lose Blätter, Pinsel, Stifte, Tuschgläser und ein Glas mit gesammelten Federn.
Sie zeichnete nicht nur, was sie sah – sie zeichnete, was sie fühlte. Fantastische Wesen mit Flügeln aus Blättern, Katzen mit drei Schwänzen, geheimnisvolle Wälder mit leuchtenden Bäumen, sprechende Flüsse und fliegende Inseln. Ihre Fantasie war wie ein Garten, in dem alles wachsen konnte.
An einem besonders stillen Abend – die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden und ein goldener Schimmer lag auf den Dächern – saß Mira wieder an ihrem Schreibtisch. Der Himmel draußen war von dunklen Wolken bedeckt, und der Wind wehte leise durch die Bäume.
„Heute male ich etwas, das es noch nie gegeben hat,“ murmelte sie leise vor sich hin.
Sie nahm ein frisches Blatt Papier, legte es vorsichtig vor sich hin und griff zu ihren Lieblingsstiften – die mit dem goldenen Griff. Langsam begann sie zu zeichnen. Ihre Hand bewegte sich wie von selbst, fast so, als hätte sie gar keine Kontrolle darüber.
Zuerst entstand ein Tier, das wie ein Fuchs aussah, aber größer war und geheimnisvoller.
Er hatte ein seidenweiches Fell in einem warmen Rotton, doch es glänzte wie Feuer, wenn das Licht darauf fiel. Seine Augen waren tiefblau, und auf seinem Rücken wuchs ein Kranz aus leuchtenden Blättern.
Um ihn herum zeichnete sie einen seltsamen Wald, in dem die Bäume silberne Stämme hatten und ihre Blätter wie Kristalle klangen, wenn der Wind hindurchstrich. Kleine Lichter flogen zwischen den Ästen, und am Himmel schwebten Monde – nicht einer, sondern drei, die in verschiedenen Farben leuchteten.
Als Mira das letzte Detail vollendet hatte, eine goldene Rune am Hals des Wesens – seufzte sie tief.
„So, mein Freund, jetzt bist du fertig,“ flüsterte sie. „Ich nenne dich Faru.“
Sie stellte die Zeichnung auf die Fensterbank, direkt neben ihre kleine Lampe, und kroch dann unter ihre Decke. Draußen hatte es begonnen zu regnen. Der Regen prasselte leise ans Fenster, und im Raum war nur das ruhige Ticken der Uhr zu hören.
Mira schlief bald ein. Doch die Nacht war nicht gewöhnlich.
Kurz nach Mitternacht, als das Dorf in tiefem Schlaf lag und selbst die Katzen in den Gassen nicht mehr miauten, flackerte die kleine Lampe auf. Ein sanftes Licht begann aus der Zeichnung zu strömen. Die Linien auf dem Papier bewegten sich langsam. Farus Augen begannen zu leuchten.
Dann, ohne ein Geräusch, löste sich der Fuchs aus der Zeichnung. Er trat mit seinen samtigen Pfoten auf den Boden, hinterließ aber keine Spur. Seine Bewegungen waren anmutig und leise wie der Schatten einer Feder.
Er ging zum Bett, legte den Kopf schräg und sagte mit tiefer, freundlicher Stimme:
„Mira. Wach auf. Ich bin gekommen.“
Miras Augen öffneten sich langsam. Sie blinzelte. Erst dachte sie, sie träume noch. Aber da stand er, genau wie auf ihrer Zeichnung. Seine Augen waren noch schöner als auf dem Papier.
„Faru?“ flüsterte sie, fast ehrfürchtig.
„Ja. Du hast mich erschaffen. Und weil du mit dem Herzen gezeichnet hast, bin ich nun hier. Nur in dieser Nacht – aber wenn du willst, kann sie ewig dauern.“
Mira setzte sich auf, streckte die Hand aus und berührte das leuchtende Fell. Es war weich, warm, lebendig.
„Woher kommst du?“
„Aus der Welt, die du gezeichnet hast. Sie ist mehr als nur ein Bild. Es ist ein Ort. Und du hast ihn erschaffen.“
Faru streckte seine Flügel aus – denn ja, nun sah Mira, dass er Flügel hatte, große, durchsichtige, von goldenem Licht durchzogene Flügel.
„Willst du mitkommen?“
Ohne zu zögern nickte Mira. Faru berührte sie mit der Nase, und plötzlich verschwanden die Wände ihres Zimmers. Der Boden wurde weich wie Nebel. Die Welt drehte sich, doch es machte ihr keine Angst.
Und dann stand sie dort – inmitten des gezeichneten Waldes.
Der Boden war moosig und warm. Über ihr schwebten die drei Monde, jede Farbe spiegelte sich in Farus Fell. Die silbernen Bäume rauschten leise, und irgendwo erklang Musik – gespielt von Blättern, vom Wind oder vielleicht von unsichtbaren Wesen.
„Das ist... wunderschön,“ sagte Mira mit offenem Mund.
„Es ist deine Welt. Alles hier lebt, weil du es dir ausgedacht hast.“
Sie gingen durch den Wald. Überall leuchteten Wesen auf: ein Reh mit durchsichtigen Hufen, eine Eule, die in Rätseln sprach, ein riesiger Fisch, der durch die Luft schwamm.
Sie trafen auf einen See, in dessen Wasser sich nicht der Himmel spiegelte, sondern Erinnerungen – Bilder aus Miras Leben, die in Licht und Schatten tanzten.
„Manchmal,“ sagte Faru leise, „kann das Unsichtbare viel wirklicher sein als das, was alle sehen.“
Mira sah ihn an. „Kann ich hierbleiben?“
„Nicht für immer. Aber du kannst jederzeit zurückkehren. Solange du zeichnest. Solange du träumst.“
Langsam wurde der Wald blasser. Die Farben begannen zu verblassen, wie der Morgen ein Gemälde langsam verschwinden lässt.
„Es ist Zeit, Mira. Aber vergiss nie: Du bist eine Schöpferin. Deine Gedanken sind Türen.“
Ein letzter Windhauch, ein letztes Leuchten – dann wachte Mira auf.
Die Sonne war gerade aufgegangen. Ihr Zimmer war still. Alles sah aus wie immer – bis auf eines: Auf dem Fensterbrett lag ihre Zeichnung. Doch Faru war verschwunden.
Stattdessen stand dort – zart mit goldenem Stift gezeichnet:
„Ich war wirklich da. Du auch.“
Und unter der Botschaft, fast unsichtbar: ein einzelnes, leuchtendes Blatt.
Mira lächelte. Dann griff sie nach ihrem Stift.
Denn sie wusste jetzt: Jede Linie ist ein Pfad. Jede Zeichnung eine Tür. Und irgendwo wartete Faru schon wieder auf sie.
„Bis bald,“ flüsterte sie. „Ich komme wieder.“
Ende.
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